Lebensdaten des Komponisten
12. (25.) September 1906 in St. Petersburg – 9. August 1975 in Moskau
Entstehungszeit
Juni bis Oktober 1953
Uraufführung
17. Dezember 1953 in der Leningrader Philharmonie unter der Leitung von Jewgenij Mrawinskij
Das Werk beim BRSO
Erstaufführung: 10./11. Januar 1980 im Münchner Herkulessaal, Dirigent: Ogan D-Narc (Ohan Durjan); weitere Aufführungen unter der Leitung von Oleg Caetani, Georg Solti, Gilbert Varga, Thomas Sanderling, Andris Nelsons und Vasily Petrenko
Zuletzt auf dem Programm: 24./25. Oktober 2019 in der Münchner Philharmonie, Dirigent: Mariss Jansons
Wie müsste das musikalische Porträt eines Tyrannen aussehen? Eines Gewaltherrschers wie Josef Stalin, der eines der schrecklichsten Terrorregime der Geschichte und den millionenfachen Tod in der eigenen Bevölkerung verantwortete? Die Antwort scheint einfach: Diese Musik muss laut sein, aggressiv, brutal, grobschlächtig, hässlich – eine eruptive Entäußerung nach jahrzehntelang ertragenen Qualen und Demütigungen. Aber ein solches Porträt konnte erst geschrieben werden, nachdem der Porträtierte tot war. Und selbst dann war noch Vorsicht geboten, es als solches zu deklarieren. Erst 1974, in seinen von Solomon Volkow aufgezeichneten Memoiren, sollte Schostakowitsch diesen Zusammenhang klar benennen: »Stalin habe ich später [nach der Neunten] dennoch in Musik gesetzt, und zwar in meiner nächsten Symphonie, in der Zehnten. Ich komponierte sie unmittelbar nach Stalins Tod. Und niemand hat bis heute erraten, worum es darin geht: um Stalin und die Stalin-Ära. Der zweite Satz, ein Scherzo, ist, grob gesagt, ein musikalisches Porträt von Stalin.«
»Es ging um Leben oder Tod«
Das Ableben des »großen Führers und Lehrers« am 5. März 1953 war ohne Zweifel eine entscheidende Zäsur im Leben von Dmitrij Schostakowitsch. Er war damals erst 46 Jahre alt, aber die Spuren von Unterdrückung und Angst hatten sich längst bis ins Innerste seines Denkens und Schaffens eingegraben. Schostakowitsch habe große Erleichterung verspürt, berichtet Volkow, aber keine Euphorie. Dafür wog das Erlittene zu schwer. Dennoch markiert dieses Ereignis eine Art Aufbruch. Seit der Uraufführung seiner Neunten 1945, die die erwartete Feier des gewonnenen Krieges und des obersten »Heroen« Stalin subtil, aber offenkundig verweigerte, hatte Schostakowitsch keine Symphonie mehr geschrieben. Der Diktator hatte sich über die Neunte maßlos erzürnt und Schostakowitsch im März 1948 durch sein Kontrollorgan, den Komponistenverband, öffentlich maßregeln und diffamieren lassen. Das Sowjetreich bestrafte einen seiner wichtigsten musikalischen Repräsentanten mit dem Entzug aller seiner Lehrämter und einem Aufführungsverbot vieler seiner Werke. Danach war erst einmal nicht daran zu denken, eine weitere Symphonie zu schreiben.
Und ein zweites Mal (nach 1936, als er wegen seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk ins Visier des Regimes geraten war) sah sich Schostakowitsch der existenziellen Bedrohung durch Verhaftung und sogar Tod ausgesetzt. »Lebenswichtig war […], wie gefällt dein Opus dem Führer. Ich betone: lebenswichtig. Denn es ging buchstäblich um Leben oder Tod, nicht etwa im übertragenen Sinne«, äußerte Schostakowitsch in den Memoiren. Einige Werke, die unmittelbar nach der offiziellen Maßregelung entstanden – darunter das Erste Violinkonzert und der Vokalzyklus Aus jüdischer Volkspoesie –, komponierte er ohne Aussicht auf Aufführung, ein Umstand, der ihnen besondere Bedeutung zukommen lässt: Hier konnte er ohne Zugeständnisse zum Ausdruck bringen, was er empfand. Dass sich diese Situation mit dem Tod Stalins ändern und das erste große Werk nach dieser Zäsur die erlebte Zeitgeschichte in irgendeiner Form reflektieren würde, dürften die Zeitgenossen erwartet haben. Schon im Juni 1953 begann Schostakowitsch mit der Zehnten. Allein die Tatsache, dass er sogleich eine Symphonie in Angriff nahm, hatte erhebliche Symbolkraft: Damit war klar, dass sich Schostakowitsch an die breite Öffentlichkeit richtete.
Keine fünf Minuten für Stalin
Schostakowitschs Zehnte wird inzwischen allgemein als eine Abrechnung mit Stalin gedeutet. Doch ist dies nur ein Aspekt eines weitgespannten symphonischen Wurfes, der auf faszinierende Weise erlittenes Weltgeschehen, persönliche und universale Gedanken mit der Eigengesetzlichkeit der Musik zusammenspannt. Betrachtet man den Aspekt der Abrechnung, fällt auf, dass das eigentliche Porträt, der zweite Satz (Allegro), extrem kurz ist. Keine fünf Minuten Musik widmete Schostakowitsch dem ehemaligen Machthaber, doch die haben es in sich. »Angesichts der drastischen Gewaltintonationen dieses Satzes erübrigt sich fast ein Kommentar«, schreibt der Schostakowitsch-Experte Michael Koball. Angetrieben von einer Figur aus drei kurzen, scharfen Tönen – dem »Hetzmotiv« (Koball) –, walzt eine beispiellose Orgie entfesselter Aggression über den Hörer hinweg, und der Eindruck einer fast physischen Materialisierung von Brutalität ist sicher der Hauptzweck der Musik. Wie so oft bei Schostakowitsch finden sich aber in einer zweiten Schicht musikalische Chiffren, die bestimmte Bedeutungen transportieren.
Krzysztof Meyer, Bernd Feuchtner und Michael Koball haben auf die Verwandtschaft des Hauptthemas dieses Satzes (ab T. 7 in den Holzbläsern) mit dem Beginn des Prologs zu Mussorgskys Oper Boris Godunow hingewiesen, von der Schostakowitsch 1939/1940 eine eigene Instrumentierung erstellt hatte. Da es in diesem Schlüsselwerk der russischen Musik um die Konstellation Volk, Herrscher und Machtmissbrauch geht und gerade der Prolog die von der Obrigkeit geknechtete Menge zeigt, ist die Bezugnahme wohl kein Zufall. Im weiteren Verlauf des Satzes setzt dann das so genannte »Gewalt-Motiv« ein – eine kurze, brutal tönende Formel mit charakteristischer Doppelnote am Ende, die ursprünglich aus der Oper Lady Macbeth stammt und schon in der Siebten Symphonie, der Leningrader, von zentraler Bedeutung war –, um hier mit beißender Penetranz in den Blechbläsern zu wüten.
Stimmung von permanenter Bedrängnis
Denkt man sich das »Stalin-Scherzo« als verheerendes Gravitationszentrum, als »bösen« Nukleus der Symphonie, wird bei einem Blick auf das ganze Werk schnell klar, dass sich Schostakowitsch weniger für das Phänomen Stalin selbst als für das interessierte, was es bewirkte. Die Stimmung von permanenter Bedrängnis, dumpfem Brüten und unentwirrbaren Grübeleien bestimmt über weite Strecken die Atmosphäre des ersten und mit gut 25 Minuten längsten Satzes der Symphonie (Moderato). Schostakowitsch arbeitet mit drei Themen unterschiedlichen Charakters, die in ihren kleinen Intervallschritten und langgedehnten Verläufen einander aber ähneln. Der Satzbeginn mit dem ersten Thema ist durch die tiefen Streicher besonders dunkel und pessimistisch gefärbt. Auch wenn die Solo-Klarinette im zweiten Thema, dem eigentlichen Hauptthema des Satzes, einen lyrischeren, kontemplativen Ton anschlägt, bleibt die Stimmung gedämpft und zögerlich. Und selbst der Versuch der Flöte, dem Satz mit dem leicht beschwingten dritten Thema etwas Tänzerisches zu geben, will nicht recht gelingen.
Die Entwicklung verliert entweder ihre Kraft oder kippt ins Bedrohliche um. Fast wichtiger als die Themen selbst ist die Arbeit, die diese Themen in Gang setzen, der Prozess ihrer Entwicklung, Verdichtung und simultanen Verknüpfung. Sie verheddern sich wie ausweglose Gedanken und lassen einen keine Ruhe finden. Und so erscheinen einem die quälenden, lärmenden Klangballungen, zu denen sich die Musik immer wieder, vor allem in der Durchführung, auftürmt, als Folge mehr der inneren als der äußeren Bedrohung. Der äußere Feind mag zwar tot sein, aber dem Verhängnis im eigenen Inneren entkommt man nicht. »Die Musik schreit sich aus bis zur Erschöpfung, ohne zu einer Lösung zu finden«, so Bernd Feuchtner.
Das deformierte Individuum stolpert ziellos durch die Welt
Wer ist es, der all das durchleidet? Es könnte jeder sein, aber es ist vor allem Dmitrij Schostakowitsch selbst. Ab Mitte der 1940er Jahre arbeitete der Komponist in seinen Werken mit einem viertönigen Motiv, das die musikalische Umschreibung seiner Initialen darstellt: D – Es – C – H. Im dritten Satz seiner Zehnten (Allegretto) stellt er es geradezu obsessiv ins Zentrum des Geschehens. Zwar klang es zuvor schon am Ende der Exposition des ersten Satzes in den Ersten Violinen an, hervorgehoben durch lange, feierliche Notenwerte. Allerdings versteckte es sich hier noch hinter einer Verdrehung der Tonfolge: D – C – H – Es. Ein weiteres Mal würfelt Schostakowitsch die Buchstaben nun zu Beginn des dritten Satzes durcheinander: Das erste Thema beginnt mit den Tönen C – D – Es – H. Daraus formt der Komponist ein etwas täppisches Gebilde, das wie ferngesteuert wirkt. Das deformierte Individuum stolpert ziellos durch die Welt, erfährt durch sein »dolce«-Gewand aber dennoch eine liebevolle Betrachtung. Die originale Gestalt des Monogramms präsentieren dann wenig später Flöten und Oboe mit vehementer Staccato-Gebärde.
In einem Ausdrucksspektrum von kraftloser Ermattung bis zur grimmigen Selbstbehauptung werden diese beiden Themen den Satz bestimmen, dabei aber mit einer dritten Kraft konfrontiert. Mit einem Quartpendel erhebt das Horn seine Stimme zu geheimnisvollen Mahnrufen, die an die Klangwelt Mahlers denken lassen. In den tiefen Streichern erklingt das düstere erste Thema aus dem Kopfsatz, bald darauf sind Tamtam-Schläge zu hören, ein Symbol des Todes. Später werden die Hornrufe mit fast panischen Wiederholungen des D – Es – C – H verzahnt. Am Ende herrscht vollkommene Verlorenheit, und es »treiben nur noch Fragmente durch den Klangraum« (Michael Koball), bis die Musik »morendo« erlischt. »Ich hatte nur einen Gedanken: Wie viel Zeit zu leben habe ich noch?«, schrieb Schostakowitsch in seinen Memoiren über eine Reise zum Weltfriedenskongress in New York 1949, auf der er genötigt wurde, die offizielle Kulturpolitik der UdSSR zu vertreten.
Ich bin da!
Schostakowitsch blieb noch Zeit zu leben. Man konnte Stalin zwar nicht bezwingen, aber man konnte ihn – Wunder genug! – überleben. Nun musste man sich nicht mehr verstecken. Von diesem grundlegenden Wandel spricht das Finale der Zehnten. Es beginnt mit einer langsamen Einleitung (Andante) voller Töne der Introspektion. Oboe, Flöte und Fagott spinnen lange, in sich versunkene Monologe: Sie markieren den Bezirk der inneren Reflexion, in den keine Diktatur der Welt eindringen kann. Mit dem sich allmählich herausschälenden, quirligen Allegro-Thema nimmt der Satz dann für ein paar Momente die Fahrt eines fröhlichen Kehraus auf. Doch wie so oft bei Schostakowitsch verliert sich das Bild von Harmlosigkeit bald in grotesken Verzerrungen. Stumpfsinniger Gleichschritt in den Streichern, hysterische Windungen in den Holzbläsern und eine immer schriller werdende Massierung des Klangs – der kurze Ausflug in die Gefilde der Heiterkeit wird brachial niedergepeitscht. Und sollte das Kehraus-Thema zeigen, wie optimistische Musik im Sinne des Sozialistischen Realismus klingen könnte, so ist dieser Reigen des Schreckens (in dem sogar die zarten Motive der Einleitung verunstaltet werden) ein beißender Kommentar dazu.
Auf ihrem Höhepunkt mündet die Entwicklung in das vom vollen Orchester intonierte und manisch wiederholte »Hetzmotiv« aus dem Stalin-Scherzo. Doch diesmal wird es gestoppt: Mit »gigantischem Getöse« (Bernd Feuchtner) stemmt sich das D – Es – C – H dagegen und bringt das Geschehen gebieterisch zum Stillstand. Nach diesem Schock formieren sich die bekannten thematischen Gestalten noch einmal neu, doch nicht im Sinne einer regulären Reprise, aber darauf kommt es auch nicht mehr an. Immer wieder tönt das D – Es – C – H durch und wird schließlich zur alles bestimmenden Kraft. In den verschiedensten Instrumenten bis hin zur Pauke scheint es in die Welt schreien zu wollen: Ich bin da! Doch ist es eine uneingeschränkt freudige Manifestation? Das über den Satz angehäufte Gerassel des Irrsinns klingt lange mit. Und selbst wenn es sich am Ende in Ausgelassenheit auflöst, bleibt diese doch sonderbar überdreht.
»Die Diskussion verlief lebhaft und endete zu meinen Gunsten.«
Wenige Monate nach der Uraufführung am 17. Dezember 1953 in der Leningrader Philharmonie kam es zu einer öffentlichen Erörterung des Werkes, die durch den Komponistenverband organisiert wurde. Ihre Beiträge wurden in einer Sonderausgabe der Sowjetskaja Musyka abgedruckt. Neu war, dass sich Gegner und Anhänger gleichberechtigt zu Wort melden durften. Am 7. April 1954 vermeldete Schostakowitsch seinem Freund Isaak Glikman: »Die Diskussion verlief lebhaft und endete zu meinen Gunsten.«